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BETRACHTUNGEN ZUR PERIPHERIE Wo endet die Stadt, wo genau beginnt die Peripherie? Inzwischen tragen nicht mehr zum historischen Zentrum zählende oder zu bürgerlichen Quartieren mit älterer Bausubstanz gehörende Wohnbezirke viele Namen. Im deutschen Sprachraum ist die Rede vom Stadtrand, von Agglomeration, Siedlung, Zwischenstadt oder Vorort. Häufig sind diese Vorstädte oder in der Stadt sich ausbreitende Bereiche, die beiläufig bewohnt werden – selbst wenn man eine lange Zeitspanne seines Lebens dort verbringen sollte – mit dem Vorzeichen des Austauschbaren und Banalen versehen. Schon nach einiger Zeit kann ihnen der Ruch des sozialen Abstiegs oder gar der Ruf des sozialen Brennpunkts anhaften. Topophilie Joachim Hildebrand … entdeckt eine nachträgliche Schönheit in der Architektur von Siedlungen, wie sie die “Neue Heimat” in den 50er Jahren in Deutschland hochzog: schmucklose Bauten, die sich dennoch hin und wieder einen Anflug von Eleganz leisten … die Bäume, die man damals jung eingepflanzt hat, sind beträchtlich gewachsen. Ihr verschlungener Schattenwurf auf karge Fassaden, die zwischenzeitlich durch Farbe aufgefrischt worden sind – und auch das Sonnenlicht tut das seinige dazu, um Wärme auf die Fassaden zu zaubern – in Verbindung mit der strengen, hier aber tatsächlich wohltuend klar erscheinenden Architektur der Nüchternheit, läßt Spielraum für Fantasie. Ist das der nachträgliche Blick? Oder der wiedergewonnene Wunsch nach Überschaubarkeit und doch in irgendeiner Form geordneten Verhältnissen? Andrea Gnam, EIKON 93, 2016 ___________
Ist die Heimat heute nicht mehr als eine Internetadresse? Wieviel Heimat braucht der Mensch? Und wieviel Fremdheit kann er ertragen? Es sind solche Fragen, die dem Betrachter in den Sinn kommen, wenn er im Katalog einer Ausstellung des Kunstforums Ostdeutsche Galerie Regensburg blättert. Eine Schau, die den Begriff mit einem Fragezeichen versieht … Sie stellt Fotografinnen und Fotografen vor, die Ihren Fokus auf Osteuropa gelegt haben. Was ist das spannende an diesen so verschiedenen Heimatbildern? Vielleicht ist es die Fremdheit. Viele der hier gezeigten Bilder muten wie fotografische Zeugnisse an, die ein Fremder dort machen würde, wo andere sich zu Hause fühlen. So ist es etwa bei den Häuserfassaden von Joachim Hildebrand: Sie wahren Distanz – und sind doch von großer poetischer Kraft … Marc Peschke, PHOTONEWS Nr.9/2014 ___________
Ob es das alte Besteck aus der Kindheit ist oder fremde Landstriche, die einem plötzlich vertraut vorkommen: Zuhause kann viel mehr sein als bloß ein Ort. Das Kunstforum Regensburg ergründet den vielschichtigen Begriff “Heimat” in Bildern aus Osteuropa. Wer für Wärme und Behaglichkeit offen ist, findet diese sogar an eigentlich unwirtlich erscheinenden Orten – etwa in einem der uniformen Sechzigerjahre-Wohnblocks in Frankfurt am Main. Dort, in der Bankenmetropole, wuchs der Fotograf Joachim Hildebrand auf. Ausgerechnet mit der monotonen Wohnsiedlung, die auf seinem Schulweg lag, assoziiert er jenen Ort tiefen Vertrauens, der gemeinhin als “Heimat” beschrieben wird. Für die Ausstellung “Heimat? Osteuropa in der zeitgenössischen Fotografie” im Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, an der sich 13 Künstler beteiligten, hat Hildebrand eine Serie von Aufnahmen dieser Kolonie beigesteuert. Statt Trostlosigkeit sollen sie Schönheit zeigen. Die Heimeligkeit, die seine sonnendurchfluteten Bilder ausstrahlen, ordnet der Fotograf den Bewohnern der Siedlung zu, die bei deren Bau vor 60 Jahren oft Flüchtlinge aus kriegsverheerten Gebieten Osteuropas waren. Nun – drei Generationen später – leben dort wieder viele Entwurzelte. Ihre Vergangenheit, Erinnerungen und Träume verbänden sich für ihn mit den Schatten der Bäume, die bei Sonnenschein auf die Gebäude fallen, so der Fotograf. Sie würden zu einer Metapher “für die Verschmelzung von Bewohnern und ihren Lebenslinien mit dem, was ihnen eine neue Heimat sein soll”. An Hildebrands sehr spezieller Interpretation des Begriffs “Heimat” lässt sich bereits begreifen, wie assoziationsreich und unscharf dieser Terminus ist, Heimat meine “mehr” als es Synonyme wie “Geburtsort”, Zuhause” oder “Vaterland” ausdrücken könnten, sagte bereits Ernst Bloch, der als Philosoph den über sich hinausdenkenden Manschen propagierte. Dessen Bewusstsein werde nicht allein durch das Sein bestimmt, sondern weise einen “Überschuss” auf. Dieser drücke sich in sozialen, ökonomischen und religiösen Utopien aus – oder in der bildenden Kunst, der Musik oder schlicht in der menschlichen Phantasie. Bloch wollte damit sagen, dass die Gedanken- und Gefühlswelt des Menschen weit über seine physische Existenz hinausgeht und sehr vielschichtig sein kann. Was das von ihm postulierte “mehr” des Heimatbegriffs ist, lässt sich folglich kaum präzisieren. Als Heimat definieren die meisten Menschen intuitiv den Ort ihrer Kindheit, aber genauso kann der frei gewählte Lebensmittelpunkt zur Heimat werden … Paul Katzenberger, Süddeutsche.de, 27. Juni 2014 ___________ ARCHITEKTURSOMMER 2011 A House Is Not A Home Gut erinnert man sich Joachim Hildebrands Farbfoto-Ausbeute “Mass Storage”: Wohn-Hochhaustürme in Hongkong, in schräger Aufsicht so dicht gestaffelt, dass man sich kaum Straßen dazwischen vorstellen kann, geschweige denn Parks, Kulturzentren, öffentliche Plätze. Stattdessen bloß Bündel schlank aufgeschossener Schachteln, darin, dem Serientitel gemäß, lebendes Menschenfleisch verwahrt wird. Und dann doch, ebenso massenhaft, kleine Revolten gegen die Uniformität auf den Dachplattformen: Bonsai-Dschungel, anarchische Baumaßnahmen, Gerümpelkollektionen des Messi-Nachbarn. Vom Außen- zum Innenbereich, von der Fern- zur Nahoptik wechselt „Run Down“, eine Serie, für die Hildebrand durch die aufgegebenen Frankfurter Großmarkthallen gestreift ist. Auch das leere Räume. Schockierend ausgeplündert sogar, wenn man entdeckt, wie rabiat hier selbst wertlos Scheinendes weggerissen, heruntergefetzt, herausgebrochen, demontiert wurde. Nur die alten Heizkörper dürfen Kälte verstrahlen. Nur der Kubus der zeigerlosen Uhr vermeldet eine nicht mehr zu messende Zeit. Dennoch füllen sich, je länger man hinschaut, die Räume wieder – und zwar, statt mit Objekten, mit Schrammen und Schmutz und Schmauch, den Spuren von Arbeit und Achtlosigkeit. Aus dem Dunst des Atmosphärischen werden ahnbar Geschichten und Geschichte des Riesengebäudes. Die Faszination von Architektur treibt den Fotografen schließlich auch in der „Freeze“ betitelten Reaktion auf das in der Mauritiusgalerie Angetroffene an. Die reichlich vorhandenen Glasscheiben haben es ihm angetan, mit Ding-Spiegelungen und Lichtreflexen, dem Schimmer des Entrückten und Unwirklichen. Das Entleerte, das Stillstehende ist ihm Vorbedingung für „die Impression des Blicks in einen Eisblock“. Dr. Roland Held, Darmstadt 2011 ___________ BACK TO THE STORY If a narrative impulse is on the ascendency in documentary photography, a group of photographers working in and around Frankfurt seem to have a corner on the trend. Joachim Hildebrand’s earlier work celebrated the encyclopedic cataloguing of endless apartment dwellings in Hong Kong. These accordion-like vistas found a surprising counterpoint in a series of images of tropical fish in storefront tubs, packed like sardines swimming nowhere. The combined typologies, however, indicated no storylines as such. In his recent work, however, the narrative impulse steps in dramatically, turning up the volume on contemporary photography. Shooting down from shopping mall overpasses, without the graphic intent of the 30’s Bauhaus masters such as Moholy-Nagy and Otto Steinert, Mr. Hildebrand catches streams of crisscrossing populations coming and going from who knows where to who knows where. In one close-up frame, he isolates two teenaged sisters perhaps, seated on a rising escalator. We can tell the direction they are going by the inter-racial couple just above them. [His fingers on the small of her back is a stolen moment, the kind photographs of which there are millions that we, ourselves, never see!] What Mr. Hildebrand’s slice of escalator image reveals, of course, is the length the upward journey. Who sits on escalators to begin with? Certainly you wouldn’t park your butt down like that for a short haul. A myriad of stories are built into the picture frame. Shopping without shopping bags gives the economic side, who has money? Below the teenagers a single guy checks out his cell phone, bringing in yet another human dimension. The visual cues are all at work: the dress of the younger sibling echoes the escalator stairs; the hand clicking the phone is not unlike the massage being sent to the small of the woman’s back. The conversation, or lack thereof, among the sisters, grabs our attention most. Both siblings reflect on what the other may just have said. They are adrift in a sea of unknown anonymity. The volume, in this case, is the hum of the machinery moving them through this snippet of adolescence. Arno Rafael Minkkinen
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